Mecklenburg-Vorpommern ·Privates ·Tagesnotizen 2017

Eine unscheinbare Gabe. Kein Nachruf, sondern ein Nachwinken.

Da, wo man von der Bundesstraße abfährt, auf den kopfsteingepflasterten Weg, hin zum Dorf mit seinem See und Schloß, die unvermittelt nach einem kurzen Stück durch den alten Wald vor einem auftauchen, war es immer ein Moment der vorfreudigen Spannung, auf dem Heimweg von wo auch immer. Würde sie da sein?

Kaum biegt man also von der Bundesstraße ab, da liegt rechterhand das kleine Häuschen. Jetzt ist es mit einem neuen Farbanstrich versehen und scheint aufrechter zu stehen und auch der Vorgarten ist entrümpelt und aufgeräumt. Vorher wirkte der Garten immer etwas verwildert und chaotisch, also ob ein Teil des Hausrats, oder was sich sonst so ansammeln kann, dort vorübergehend abgestellt, und dann vergessen worden wäre.
Das Häuschen selbst sah ein bisschen geduckt und heruntergekommen aus, mit windschiefen alten Fenstern und einer Tür, die über die Jahre etwas verwittert war.

Die einzige Bewohnerin des Häuschens, das immer ein bisschen verloren wirkte, weil es so weit vom eigentlichen Dorf und ganz allein da stand, war die alte kleine Frau. Da waren zwei miteinander alt geworden und schienen nun in trauter Zweisamkeit zu existieren und sich einander angeglichen zu haben. Hager und abgearbeitet, passte sie gut zu ihrem Häuschen.

Dünnes, schlohweißes Haar über dem leicht verzogenen Gesicht mit dem ebenfalls schiefgezogenen Mund und den zusammengepressten Lippen. Ob das Alter ihr das Gesicht so verzogen hatte, oder vielleicht ein früherer Schlaganfall, ich weiß es nicht. Auf den ersten Blick wirkte sie dadurch fast etwas verbittert oder misanthropisch. Ich stellte mir vor, dass sich kleine Kinder vielleicht sogar vor ihr fürchteten, wenn sie plötzlich um die Ecke kam. Vielleicht fürchtete ich mich sogar selbst ein bisschen vor ihr.

Doch es geschah etwas Überraschendes, als ich die ersten Male an ihr und ihrem Häuschen vorbeifuhr. Die alte Frau richtete sich plötzlich kerzengerade auf, hob ihren Arm und ihre Hand machte eindeutig winkende Bewegungen. Das erste Mal war ich so verblüfft, dass ich völlig vergaß zurückzuwinken, und als es mir einfiel, war ich längst an ihr vorbeigefahren. Aber das war längst noch nicht alles. Wie sie da so winkend stand, veränderte sich ihr Gesicht vollkommen. Es schien sich gleichsam zu verjüngen, die Falten schienen sich zu glätten, ihr Mund richtete sich und verzog sich zu einem breiten Lächeln, dessen Ausläufer bis zu den Augen reichten und sie regelrecht erstrahlen ließen.

Die alte Frau also verwandelte sich in ein herzerwärmendes, strahlendes Wesen, in eine kleine Sonne, deren Strahlen unverhofft auch noch durch die dickste Wolkendecke brechen und einen goldenen Schein über die Landschaft legen. Ich bin unzählige Male Zeugin dieser wundersamen Verwandlung geworden und war jedesmal tief berührt davon.

Mit der Zeit erfuhr ich, dass sie wirklich jedem, der an ihrem Häuschen vorbeifuhr, auf diese Weise zuwinkte. Wir nannten sie die »Winke-Oma«. Es schien, als sei das der eigentliche Grund ihres Daseins. Schlicht und einfach dort vor ihrem Häuschen zu stehen oder entlang des verrosteten Gartenzauns zu spazieren, oder irgendetwas in ihrem Garten zu werkeln und auf vorbeifahrende Autos (oder ab und an mal Radfahrer) zu warten, um dann diese wunderhafte Metamorphose zu durchlaufen und zu winken und zu lächeln.

Nie sah ich ein nachlässiges oder beiläufiges Winken von ihr. Sie winkte und strahlte mit jeder Faser ihres Körpers. Sie war ganz und gar anwesend, nicht abgelenkt von dem, was sie eben noch getan hatte, oder als nächstes zu tun vorhatte. Sie war denen, denen sie winkte völlig zugewandt, egal ob sie diejenigen kannte oder nicht. Sie winkten allen unterschiedslos, auf dieselbe hingegebene Art und Weise, und ihr Lächeln wirkte niemals müde oder aufgesetzt, sondern immer frisch, wie das erste Lächeln, das die Welt je sah.

Fast immer, wenn ich an ihrem Haus vorbeifuhr, war sie da, und sie versäumte nie, mir zu winken. Und natürlich winkte ich zurück. Fast alle, die an ihr vorbeifuhren, winkten zurück. Man konnte gar nicht anders, als zurückwinken. Selbst hartgesottene Kerle, die sonst alles daransetzen, sich keine Blöße zu geben, winkten ihr wenigstens schnell und verstohlen zu.

Irgendwie hatte sie etwas von einer Dorfwächterin, aber einer überaus freundlichen. Wer ins Dorf wollte, musste an ihr und ihrem Winken vorbei. Manchmal schien sie mir aber auch wie eine Dorfmutter, die morgens ihre Kinder (die Dorfbewohner) mit ihrem Winken verabschiedete und sie nachmittags oder abends inklusive eventuell mitgebrachter Freunde wieder mit ihrem Winken und einem Lächeln für jede und jeden in Empfang nahm.

Kam ich angespannt, erschöpft oder gestresst von irgendwo wieder und sah sie stehen, winken und lächeln, war alles - wenigstens für den Moment - wie weggewischt, und ich winkte und lächelte selber. Kam ich von einer mehrtägigen Reise zurück und bog in die Kopfsteinstraße ein und sah sie stehen und winken und lächeln, hatte ich das Gefühl von Nachhausekommen. Die Welt war wieder in Ordnung.

Stand sie einmal nicht vor ihrem Haus und winkte und strahlte nicht, fehlte etwas, war ich beunruhigt. Vor wenigen Jahren, geschah das immer öfter. Besorgt unterhielten wir uns darüber, ob es ihr wohl nicht gut ginge? War sie krank geworden? Vielleicht zu alt und schwach, um immer noch jeden Tag (gefühlte 24 Stunden bei jedem Wetter) dort zu warten, zu winken und zu strahlen?

Nun hatte es ein bisschen etwas von einer Lotterie, wenn man wegfuhr oder heimkam. Würde sie dort stehen und winken oder nicht. An manchen Tagen zog man das große Los (sie stand da, winkte und lächelte wie eh und je) und freute ich doppelt, an anderen Tagen zog man eine Niete (sie stand nicht dort, kein Winken, kein herzerwärmendes Lächeln) und gleich fühlte sich die Welt etwas feindseliger und trauriger an. Immer öfter zogen wir nun Nieten, nur ab und an noch ein Gewinnerlos. Und dann irgendwann waren die Lose zuende, stand sie eben gar nicht mehr dort.

Wir erfuhren, dass sie tatsächlich nicht mehr allein in ihrem Häuschen leben konnte, und dass ihre Kinder sie zu sich in eines der Nachbardörfer geholt hatten. Auch wenn wir dafür natürlich Verständnis hatten, war es doch ein wirklich tiefer und schmerzlicher Verlust. Als hätte das Dorf ein großes Stück seiner Seele verloren. Wir hörten, dass es Ihr gut ginge, dort bei ihren Kindern in dem anderen Dorf. Ich stellte mir immer vor, dass sie nun dort vor einem Haus stand oder saß und allen winkte, aber genau weiß ich das nicht.

Vor kurzem kam die Nachricht, dass sie gestorben ist. Dieser Tage dann war die Danksagung ihrer Familie für die Beleidsbekundungen zu ihrem Tod in der Zeitung. Ich weiß fast nichts über diese Frau und ihr Leben. Ich weiß nur, dass sie eine auf den ersten Blick unscheinbare Gabe hatte, aber diese Gabe hat sie eingesetzt und damit ein Vorbild und eine leuchtende Spur in vielen Herzen hinterlassen. Ich bin sicher, dass die Winke-Oma noch lange vielen in Erinnerung bleiben wird. Es müssen nicht immer die großartigsten Dinge und Errungenschaften sein, die wir hinterlassen. Es kann etwas so Schlichtes wie ein Winken und ein Lächeln sein.

Mich hat die Nachricht von ihrem Tod zu spät erreicht. Sonst wäre ich vielleicht sogar zu ihrer Beerdigung in den Nachbarort gefahren. Wenn ich herausbekomme, auf welchem Friedhof, und wo genau dort, sie begraben ist, fahre ich vielleicht im Frühjahr einmal dorthin, und lege ein paar Blumen auf ihr Grab. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich ihr dann ein letztes Mal dankbar winken werde.

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