Literatur & Lyrik ·Privates

168

Das beeindruckende Projekt »1000 Tode schreiben« herausgegeben von Christiane Frohmann, ist auch mit seiner erweiterten zweiten Version in vieler Munde. Ich habe die neuen Texte inzwischen alle gelesen und bin wieder sehr beeindruckt, wie erschütternd, tröstlich, verbindend, faszinierend die Texte sind.

Jetzt lese ich alles noch ein zweites Mal und manche Texte sogar schon ein drittes Mal. Mir gefällt sehr, hier eine Textsammlung in die Hand zu bekommen, die man immer wieder zur Hand nehmen kann, und in der man jedes Mal etwas entdecken wird, das einen anspricht und weiterbringt. Natürlich gibt es Texte, die mich mehr oder andere, die mich weniger ansprechen. Was mich heute besonders anspricht, kann mich zu einem späteren Zeitpunkt unter Umständen gar nicht mehr erreichen, dafür plötzlich ein anderer Text, der mir jetzt gerade gar nichts oder wenig sagt.

Als ich ungefähr die Hälfte der neuen Texte gelesen habe, habe ich bei Twitter einige Texte bzw. deren Nummern genannt, die mich bis dahin besonders angesprochen haben. Letztlich aber widerstrebt es mir doch, das zu tun. Ich möchte eigentlich keine »Rangliste« aufstellen. Ich will nicht, dass eine Art (inoffizieller) »Wettbewerb« um den besten Text ausgerufen oder angestrebt wird. Ein Urteil über literarische Qualitäten maße ich mir nicht wirklich an. Zumal es nicht das vorrangige Ziel des Projekts war bzw. ist das Thema mit hochliterarischen Texten zu beleuchten. Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Bildung, Erfahrungen tragen Texte bei, und so entsteht ein facettenreicher Blick auf die Themen Tod, Abschied und Trauer. Das finde ich großartig.

Hier nun wie versprochen mein Text, den ich zu dieser zweiten Version beigesteuert habe und der als 168. Text zu finden ist. Meinen Bonus-Text, den ich anlässlich dieses Projekts geschrieben, aber zugunsten der Veröffentlichung dieses Textes hier zurückgestellt habe, wird in Kürze hier im Blog veröffentlicht.

168

Ich war fünf Jahre alt, als ich ihm das erste Mal begegnete. Ich erkannte ihn nicht. Wie auch? Mir hatte bis dahin niemand von ihm erzählt. Ich wusste nicht, dass es ihn gab und auch noch nicht, in welch unterschiedliche Gewänder und Rollen er zu schlüpfen vermag, geschweige denn, was er tat.

So beobachtete ich ihn von meinem Bett aus, in dem ich eigentlich längst hätte schlafen sollen. Er wollte auch gar nicht zu mir, sondern trat, nach einem kurzen Nicken in meine Richtung, an das Bett meiner jüngeren Schwester. Ich sah seinen Schatten über sie fallen und wunderte mich ein wenig. War er einer der Gäste, die meine Eltern für diesen Abend eingeladen hatten? Aber wieso war er dann allein und leise in unser Zimmer getreten? Was wollte er hier?

Meine Schwester begann ungewöhnliche Geräusche von sich zu geben. Ich stand auf und tappte an ihr Kindergitterbettchen. Dort musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, und selbst dann kostete es mich einige Mühe über das Gitter hinüber und dann hinunter zu reichen, um ihre kleine Hand ergreifen zu können. Ihre Augen suchten meine, aber außer einem seltsamen, langsam anschwellenden Keuchen, das tief aus ihrem Innern zu kommen schien, gab sie keinen weiteren Laut von sich. Das Geräusch aus ihrer Kehle schien sich im ganzen Raum auszubreiten, es flutete gegen die Wände des Zimmers und brandete von dort zurück in meine Ohren. Es war, als würde dieses Geräusch den Rest der Welt zum Verschwinden bringen. Instinktiv spürte ich, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging, und langsam kroch so etwas wie Angst in mir hoch.

Der fremde Gast aber schien gar nicht besorgt. Er ergriff die andere Hand meiner Schwester. Ich wollte sie aufrichten und zog vorsichtig an ihrem Arm. Das seltsame Keuchen aus ihrer Kehle wurde etwas leiser. Vielleicht, wenn ich es schaffen könnte ?? Sachte versuchte ich, sie ganz in den Stand zu ziehen. Doch plötzlich spürte ich einen Widerstand und bemerkte, dass der Fremde an ihrem anderen Arm zog. Das Keuchen verstärkte sich wieder. Ich zog fester, doch langsam verließen mich meine Kräfte, und so war es der Fremde, der sie schließlich ganz an seine Brust zog. Ihr Keuchen verstummte endgültig in einem letzten verwehenden Hauch. Jetzt war nur noch Stille und ein alles umfassender Friede im Raum. Meine Schwester war nur noch als kleiner Schemen an der Brust des Fremden auszumachen. Noch immer hatte er kein Wort zu mir gesagt. Jetzt nickte er mir noch einmal zu, wandte sich um und verließ das Zimmer mit meiner kleinen Schwester.

Es waren die Schreie meiner Mutter, die mich wenig später wieder aus dem Schlaf rissen. Aus ihrem Mund kamen Laute, wie ich sie vorher und nachher nie wieder von ihr gehört habe. Sie riss etwas aus dem Gitterbett in die Höhe. Für einen Augenblick glaubte ich, so etwas wie eine kleine Schlenkerpuppe zu sehen, und für den Bruchteil einer Sekunde wunderte ich mich, denn meine kleine Schwester hatte doch noch gar keine eigene Puppe. So lernte ich ihn kennen, den Tod.

Hier geht’s zum Bonustext

3 Gedanken zu „168

  1. Danke, liebe Liisa, für’s Teilen Deines sehr berührenden Textes!!!

    Warum habe ich zuvor nicht von diesem Projekt gehört?? Also da kann man noch was einreichen? Wie lang darf’s oder kurz muss es denn sein?

    Wäre eine Ãœberlegung wert…

  2. @ Anna - am besten Du meldest Dich per Mail bei Frau Frohmann verlag[at]cfrohmann.com
    Die schickt Dir dann ein Exposé, in dem alles was man wissen muss drin steht.

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