An den Ostertagen war hier bei uns in Mecklenburg sonniges aber kühles Wetter. Das zog sowohl die Einheimischen wie angereiste Gäste viel hinaus in die frische Luft. Überall sah man Spaziergänger, Wanderer und Radfahrer. Dabei bekam ich zufällig eine interessante Szene mit.
Eine Familie war mit ihren Gästen zu einem Spaziergang unterwegs. Neben noch kleineren Kindern hatten sie zwei etwa 5 oder 6jährige Kinder dabei, die auf ihren kleinen Kinderfahrrädern vorweg radelten.
Nun unterliegt mancher einem Irrtum und denkt, da hier ja Norden ist, bei uns sei es flach und eben. Doch unsere Gegend heißt nicht ganz umsonst »Mecklenburgische Schweiz«. Hier geht es eher auf und ab. Wenn dann noch der Wind hinzu kommt, dann kann das beim Radfahren durchaus herausfordernd werden. Jedenfalls eines der beiden Kinder legte sich plötzlich ordentlich in die Pedale und radelte drauf los wie Blücher. Das andere Kind versuchte nachzukommen, doch recht schnell zeigte sich, dass es nicht genug Puste und Kraft hatte und nicht schnell genug nach kam. Der Abstand zum ersten Kind vergrößerte sich zusehends. Da rief das hinterher radelnde Kind plötzlich laut: »Ich bin übrigens nicht mehr Deine Freund!« Das erste Kind radelte weiter. Jetzt schrie das hintere Kind noch einmal: »Ich bin nicht mehr Dein Freund!«
Das vorausgeradelte Kind bremste abrupt, stieg von seinem kleinen Fahrrad und wartete, bis das andere Kind auf gleicher Höhe war, und die beiden begannen diese Ankündigung auszudiskutieren. Die Diskussion konnte ich auf die Entfernung nicht mehr ausreichend verstehen, aber die Szene ist mir nachgegangen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fand ich, sie hat in gewisser Weise etwas Exemplarisches.
Natürlich, wenn man als Erwachsener Zeuge einer solchen Szene wird, lächelt man, oder wirft sich bedeutungsvolle Blicke zu oder macht sogar eine Bemerkung à la »Typisch Kinder!« Man nimmt diesen Ruf »Ich bin nicht mehr Dein Freund!« nicht wirklich ernst. Kinder halt! Die sagen schnell mal sowas und fünf Minuten später ist es vergessen. Das stimmt ja meist auch. Aber ich dachte bei mir, das ist ein Muster, das sich bei gar nicht so wenigen Erwachsenen später wiederfindet. Natürlich in den meisten Fällen viel subtiler, aber eben doch.
Selbst unter Freunden herrscht ein gewisser Wettbewerb. Wer macht den besseren Studienabschluß? Wer legt die erfolgreichere Karriere hin? Wer findet und gewinnt den/die bessere/n Partner/in? Wer hat die besser geratenen Kinder? Wer kocht die schmackhaftesten Rezepte? Wer ist am stilvollsten eingerichtet? Wer macht am häufigsten die tollsten Tripps, etc. etc. Vieles von dem läuft unterschwellig ab. Aber es ist schon erstaunlich, wie viel Wettbewerb, Eifersucht und Neid auch unter Freunden herrscht.
Ich habe den Eindruck, dass immer weniger Erwachsene es ertragen können, das andere erfolgreicher, schneller, wohlhabender sind als sie selbst. Dass es sich andere leisten können öfter ins Konzert, Theater, Kino oder auf das tolle Festival in XY zu gehen (zu denen ich liebend gerne auch gehen würde! - Wenn mich die überhaupt nicht interessieren, dann fällt es mir natürlich leicht, es dem Freund oder der Freudin zu gönnen). Die an und für sich sympathische Kollegin geht viel häufiger und hochpreisiger essen als man selbst? Was? Der Kollege macht schon wieder einen Städtetripp mit seiner Liebsten? Die Freundin schickt schon wieder eine Postkarte aus London, Amsterdam oder Kopenhagen? Und die Freundin leistet sich, ohne mit der Wimper zu zucken, die teuere Naturkosmetik von XY mit der ich auch schon so lange liebäugle?!
Klar, gönne ich der besten Freundin, dem guten Freund alles Gute im Leben. Aber irgendwie nagt der Wurm doch an mir. Was mach ich falsch? Wieso kann sie/er sich das und jenes leisten? Wieso hat sie den erfolgreicheren Partner erwischt, oder die besser bezahlte Karriere hingelegt und nicht ich? Merkt sie/er denn nicht, dass ich kaum noch hinterher komme, ja dass ich langsam zurückbleibe?
Und irgendwann ist er da der Satz: »Übrigens, ich bin nicht mehr Dein Freund!« Jedenfalls irgendwo im Kopf oder tief im Herzen verborgen. Ich kann nicht mehr mithalten mit Dir! Du rast mir davon und das ertrage ich nicht mehr. Und nein, es hilft mir auch nicht mehr wirklich, dass Du großzügig bist und mich ganz selbstverständlich zu diesem Konzert oder dem neuen Kinofilm eingeladen hast. Ich ertrage es nicht mehr, von Dir (eigentlich um unserer Freundschaft willen - und nicht weil Du angeben willst) zum Essen eingeladen zu sein. Deine liebevoll ausgesuchten Geschenke (ohne böswillige Hintergedanken) erreichen mich nicht mehr, sie machen mich bitter und wütend. Weil meine Geschenke für Dich, die ich mir mühsam vom Mund abgespart habe, daneben nur noch lächerlich und klein wirken (jedenfalls wenn ich mit meinem schon mißtrauischen Blick darauf schaue).
Oder umgekehrt: Ich fühle mich irgendwie mies, weil es mir so gut geht und ich merke, Dir geht es weniger gut. Ich fühle mich verpflichtet, Dir Anteil an meinem »mehr« zu geben und dieses Gefühl gefällt mir nicht. Ich kann mich an meinem eigenen Wohlstand nicht mehr uneingeschränkt freuen, weil ich um Deine finanziellen Nöte weiß und mir das die Freude verdirbt. Oder ich fühle mich nicht verpflichtet, Dir Anteil an meinem »mehr« zu geben, ich möchte es gerne, einfach so, aber ich weiß nicht recht wie. Ich will Dich nicht verletzen, wenn ich Dir gebe. Ich fühle mich zunehmend unbehaglicher. Ich fange an, Dir zu verschweigen, wenn ich mir etwas gönne oder kaufe, um Dich nicht neidisch zu machen. Ich hasse es, mich so zu fühlen. Bald jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen. Irgendwie stichst Du heraus aus dem Kreis der Menschen, mit denen ich zu tun habe (und die sich jedenfalls größtenteils auf meiner finanziellen Etage bewegen, während Du im Erdgeschoß oder Keller wohnst). Und irgendwann ist er dann da der Satz »Übrigens, ich bin nicht mehr Dein Freund!«
Kann sein, irgendwann wird dieser für eine Freundschaft verheerende Satz tatsächlich laut ausgesprochen. Als Endpunkt eines Wortwechsels voller Vorwürfe. Kann sein, er bleibt für immer unausgesprochen, aber seine Wirkung ist trotzdem verheerend. Weil wir uns still und leise nach und nach oder abrupt zurückziehen vom Freund, der Freundin.
Gleich und gleich gesellt sich gern, das gilt meist auch was den persönlichen Finanzrahmen angeht. Wahre Freundschaften zwischen Menschen, die finanziell aus sehr unterschiedlichen Welten kommen, ist tatsächlich eher selten. Natürlich gibt es auch die »Freundschaften«, in denen einer der protzig Gebende ist, und der andere der schmarotzernde Nehmende. Beide bekommen, was sie wollen und beide halten die Freundschaft deshalb für gut. Tatsächlich aber hält die Freundschaft nur so lange, wie es genau so weitergeht.
Es ist schwierig eine gute Balance hinzubekommen, wenn einer deutlich wohlhabender ist, als der andere. Da stehen eine Menge Fettnäpfchen mehr herum, in die man unbeabsichtigt treten kann. Sowohl als die/der Wohlhabendere, wie als die/der weniger wohlhabendere Freund. Eine schwierige Konstellation, die allen Beteiligten viel Großzügigkeit und viel Feingefühl abverlangt, damit kein böses Blut entsteht und nicht doch irgendwann der Satz »Übrigens, ich bin nicht mehr Dein Freund!« anfängt im Verborgenen zu keimen und zu wachsen, bis die Freundschaft zerstört ist.
Und je unsicherer die Verhältnisse werden, je weniger sicher wir sein können, dass z.B. unsere Karriere weiter bergauf geht, unser Einkünfte gesichert sind und unsere Leben in guten Bahnen bleibt, desto mehr ahnen wir, dass viele unserer Freundschaften längst nicht so stabil sein könnten, wie wir im Moment noch denken. Wir fürchten uns schon vorab davor, irgendwann den Satz »Übrigens, ich bin nicht mehr Dein Freund!« tatsächlich zu hören (oder selber auszusprechen).
Übrigens, es müssen nicht zwangsläufig die finanziellen Rahmenbedingungen sein, die zu solchen Konflikten und einem solchen Satz, ob nun ausgesprochen oder nur gedacht, führen. Es kann auch sein, jemand kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr das Lebenstempo des anderen mithalten. Jemand findet einen Partner, gründet eine Familie und seine Lebenswelt entwickelt sich weg von der der Freundin / des Freundes, der Single bleibt, sich nicht dauerhaft bindet und seinerseits in einer ganz anderen Lebenswelt unterwegs ist.
Wie viel Unterschiede halten unsere Freundschaften heutzutage noch aus? Zumal wo es jetzt das Internet mit Facebook, Twitter und ähnlichen Andockpunkten gibt, wo wir problemlos Menschen finden können, die sich auf dem gleichen oder doch wenigstens einem sehr ähnlichen Level bewegen wie wir, egal um welche Bereiche des Lebens es sich handelt. Heute ist es sagenhaft einfach, sich nur noch mit Menschen zu umgeben, die in der eigenen Filterbubble des Lebens unterwegs sind.
Klar, manche lesen gerne Blogs von Menschen aus anderen Lebenswelten. Das hat einen gewissen Reiz. »So etwas erweitert ja den eigenen Horizont!« und wir können uns dann rühmen, »das wir ja über unseren eigenen Tellerrand hinaus gucken«. Aber allzu viel wollen wir im Regelfall dann doch nicht tatsächlich mit Menschen dieser Art in Berührung kommen und wenn, dann höchstens zu unseren eigenen Bedingungen. Wirklich auf sie einlassen, dauerhaft mit ihnen leben? Das ist nochmal ein ganz anderer Schuh. Und Freundschaft, na, das überlegen wir besser nochmal sehr sehr gründlich.
Überhaupt, ist das Leben heutzutage nicht für die meisten von uns eh schon stressig genug? Wieso sollte ich mir dann Beziehungen »aufladen«, die mir noch zusätzliche Anstrengungen abverlangen? Irgendwann, muss auch mal um mich und meine Bedürfnisse gehen. Also, wenn Du es schaffst, Dich auf meinem Level des Lebens zu bewegen, wenn Du mit mir mithalten kannst, dann, ja dann können wir vielleicht Freunde sein und bleiben.
Jein.
Es gibt Freundschaften, die halten all das aus, da sind die inneren Gemeinsamkeiten viel größer als die äußeren Differenzen.
(Bin Teil einer solchen Freundschaft, die seit 53 Jahren hält und bin sehr sehr dankbar dafür. :) )
@pepa - Ja, natürlich gibt es auch die Gegenbeispiele. Wobei ich die These wagen würde, dass sie doch eher die Ausnahme sind. In unserer Generation mag es sogar noch etliche dieser Freundschaften geben, aber in den Generationen nach uns werden sie fürchte ich immer seltener.
Nach meiner Erfahrung und Beobachtungen sind Freundschaften, die solche Gegensätze tatsächlich aushalten, meist die besonders schönen und bereichernden.
Wie schön, dass Du eine solche Freundschaft erlebst! 53 Jahre, das ist wirklich eine lange Zeit!
ich glaube schon, dass viel an den stressigen Lebensumständen liegt, in denen die meisten sind.
Aber auch an diesem Denken, jeder kann alles, wenn er nur genügend will. Ist man jung, stehen allen alle Türen offen. Glaubt man zumindest. Und wenn man zurückblickt, ist oft der Zufall dabei, ob die eine im richtigen Moment das richtige Angebot hatte oder eben nicht. Ob man im richtigen Augenblick gefördert wurde oder nicht, ob man im richtigen Augenblick parat steht, ob man zwar sehr gut ist aber die Firma halt doch niemand mehr braucht, was auch immer passiert.
Aber dazwischen denken sicher viele, ich bin selbst schuld, dass ich nicht mithalten kann. Und da reicht dann die Kraft für Freundschaften nicht mehr.
@Tine - danke Dir sehr für Deine ergänzenden Gedanken zum Thema! Gerade über den Aspekt »des richtigen Moments« habe ich selbst auch schon oft und viel nachgedacht.