Literatur & Lyrik ·Nachdenkliches ·Privates ·Tagesnotizen 2017

Was los war und ist

Körperlich erhole ich mich nach der Grippe, die mich niedergestreckt hat, langsam. Seelisch bin ich ziemlich am Boden. Ich kämpfe so gut ich kann dagegen an, aber je älter der Februar wird, desto härter wird es.

Die Tage ging mir der Satz durch den Kopf: »Am Ende doch aufgefressen von der Traurigkeit.«

Diese Traurigkeit, die tief in mir wohnt. Manchmal rollt sie sich zusammen wie ein Tier und schläft eine Weile, bevor sie sich wieder regt und ihre Zähne fletscht.

Ich versuche die Traurigkeit zu zähmen. Schon so lange. Aber sie lässt sich nicht zähmen, nur manchmal etwas zurückdrängen.

Sie fletscht also ihre Zähne, und dann schlägt sie sie in meine Seele und reißt Stücke heraus.

Manchmal habe ich Angst, dass irgendwann einfach nichts mehr von meiner Seele übrig sein wird, was sie herausreißen kann. »Am Ende doch aufgefressen von der Traurigkeit.«

Und ich schwanke zwischen ohnmächtiger Wut und dem Zorn auf mich selbst.

Dass ich es nicht schaffe, dieses wilde Tier zu zähmen.

Dass ich es nicht in den Griff bekomme, egal was ich versuche und tue.

Dass ich am Ende immer nur, innerlich weinend, am Boden kauere und hoffe, dass wenn das Tier sich endlich zurückzieht, noch ein wenig von meiner Seele übrig ist.

Dass alles was ich tun kann ist, die blutigen Stücke aufzusammeln und notdürftig wieder zusammenzusetzen, mit Verbänden zu umhüllen und zuzusehen, wie die Wundränder sich langsam schließen.

So viele Narben sind schon auf meiner Seele, dass ich mich manchmal wundere, dass sich geschlagene Wunden überhaupt noch schließen können.

Eine Seele ist zart und zugleich unglaublich stark. Eine Seele, die es immer und immer wieder aushält in Stücke gefetzt zu werden, und sich danach immer wieder daran macht die geschlagenen Wunden zu heilen, die muss stark sein.

Und doch, dauert es - so scheint es mir - von Mal zu Mal länger, bis sich die Wunden schließen, bis die Stücke wenigstens lose wieder miteinander verbunden sind.

Dann beschleicht mich die Angst, dass diese Seele es irgendwann nicht mehr schaffen wird, sich selbst wenigstens notdürftig zu heilen. Dass sie einfach zerfetzt und blutend zurückbleibt. Und wenn dann das Tier das nächste Mal erwacht und seine Zähne fletscht und in die Seele schlägt, es einfach nur ein großes blutiges Massaker gibt und nichts mehr übrigbleibt. »Am Ende doch aufgefressen von der Traurigkeit.«

Und mit dem Mut der Verzweiflung stemme ich mich gegen das Tier und schreie ihm lautlos entgegen: Diesmal noch nicht! Das Tier lächelt böse und faucht mich an. Es spielt mit mir, wie eine Katze mit der Maus. Ich zähle die Tage. Bald ist der Februar vorbei und dann der März und dann, dann fällt das Tier in den Frühling-Sommerschlaf, und ich bin erst einmal gerettet.

***

Ich lese kaum einen Artikel oder Tweet über T. Ich ertrage die hysterische Aufgeregtheit über jede seiner Gesten und Tweets nicht. Ich will nicht Anteil daran haben, ihm Tag für Tag eine Bedeutung verschaffen, die er nicht verdient.

Ich ertrage es nicht, dass fast alle nur noch über ihn und seine Taten und Untaten sprechen, während sie ihre Rücken denen zukehren, die an den Rändern unseres Kontinents weiter im Meer versinken oder in Lagern mit unhaltbaren Zuständen ausharren.

Auch wir werden später nicht behaupten können, wir hätten nichts gewusst.

Wir haben gewusst. Wir haben zugelassen. Wir haben lieber mit den Fingern auf den großen anderen Kontinent gezeigt, als uns um unseren eigenen Dreck zu kümmern, vor der eigenen Haustür zu kehren.

Wir haben uns gewöhnt an die Meldungen, dass wieder so und so viele jämmerlich ertrunken sind. Wir schütteln den Kopf und stimmen im besten Fall ein Klagelied an über das bedauernswerte Schicksal der Ertrunkenen. Aber am Ende geht uns am Arsch vorbei, denn sonst würden wir in Massen auf die Straßen gehen und dafür demonstrieren, dass es nicht sein kann, dass Menschen auf diese Weise zugrunde gehen. Wir würden unsere Politiker zwingen bessere Lösungen und Wege zu finden und zwar pronto.

Wir regen uns auf über Ts. »America first«, aber wir leben selber nach der Devise »Wir zuerst!«

So lange wir uns aussuchen dürfen, was wir abgeben, oder wie viel Zeit wir einsetzen für die, die unsere Solidarität brauchen (seien es nun Geflüchtete oder auf Solidarität angewiesene Menschen im eigenen Land, von denen es ja reichlich gibt), so lange ist noch alles in Ordnung.

Aber wehe, es geht wirklich an unsere Privilegien, unseren Besitz (materiellen wie immateriellen)! Dann ist es sehr schnell vorbei mit dem Verständnis und der Solidarität!

Wir lügen uns selbst in die Tasche und sonnen uns in unserer angeblichen Großzügigkeit und Weltoffenheit. Wir wollen lieber Hygge.

Die böse komplizierte Welt - von der wir, nur zur Erinnerung, übrigens ein nicht unbeträchtlicher Teil sind - soll bitteschön möglichst draußen bleiben.

»Das Elend da draußen hält doch keiner aus.« »Und was können wir schon tun?« Da konzentrieren wir uns lieber auf uns selbst und machen es uns selbst, und so wir Kinder haben natürlich auch denen, möglichst schön. »Es hilft ja niemandem, wenn wir auch noch Trübsal blasen.« So lauten die Argumente, die ich wieder und wieder höre. »Wir zuerst!«

Es ist zum Verzweifeln mit uns Menschheit!

***

Ich denke nach über Scham und welche Rolle Scham in unserer Gesellschaft spielt. Wie sie uns dazu bringt, Rollen zu spielen, uns anzupassen, nur ja nicht aus dem Rahmen zu fallen, nicht anzuecken.

Vielleicht kommen der Hass und das Gehetze daher, dass wir einfach alle gleichschalten wollen. Alles, was irgendwie auffällt, irgendwie »anders« ist, nicht gleich auf den ersten Blick und ohne größere Anstrengung erklärbar ist, wird als bedrohlich und feindlich empfunden und Front dagegen gemacht.

Scham trennt uns voneinander, macht Solidarität unmöglich.

Wir sind lieber Richter, schnell mit einem Urteil bei der Hand.

Wer zugibt sich zu schämen (für sein Aussehen, für seine Biographie, für Ängste oder für was auch immer) wird als schwach angesehen. Bekommt im günstigsten Fall mehr oder minder kluge Ratschläge oder wird verurteilt und ausgespuckt.

Dieser Spruch »alle bekloppt«, ich mag ihn nicht. Ich wundere mich oft, wer ihn benutzt. Das sind eigentlich kluge und durchaus zur Empathie fähige Menschen.

»Ist doch nur spaßig gemeint«! Tatsächlich? Kann ich nicht so sehen.

»Alle bekloppt« - außer mir!

»Alle bekloppt«, beschämt die, die so gelabelt werden.

»Alle bekloppt« trennt mich von den anderen und nicht nur das, es hebt mich über die anderen hinaus. Mein Empfinden für das, was richtig und gut ist, wird zum alleinigen Maßstab erklärt. Meine Erwartungen, wie sich andere zu verhalten haben, wird zum alleinigen Maßstab erklärt.

Es ist ansteckend dieses »alle bekloppt«. Schnell zustimmen, schnell faven, schnell retweeten. Dann bin ich bei denen dabei, die »nicht bekloppt« sind, denn wer mag schon gerne »bekloppt«, also laut Duden »nicht ganz bei Verstand« oder »verrückt« sein? Wer möchte schon - drastischer ausgedrückt - als Idiot dastehen?

Worte beeinflussen unser Denken. Unser Denken beeinflusst unsere Haltungen und Handlungen. Was am Anfang noch »lustig« gemeint gewesen sein mag, kann sich mit der Zeit unmerklich verfestigen und zu einem Ausschlußkritierium werden.

»Alle bekloppt«, mit denen will ich lieber nichts zu tun haben! Dort die »Bekloppten« hier »ich« (und meine Freunde).

Ich bin nicht frei davon hier und da auch zu denken »alle bekloppt«. Mein Finger schwebt manchmal auch über dem »Fav-Button«, wenn jemand einen »alle bekloppt«-Tweet geschrieben hat, und ich reflexhaft zustimme. Wahrscheinlich hab ich sogar den ein oder anderen Tweet, der das unselige »alle bekloppt« enthält, gefavt. Weil ich nicht nachgedacht habe und man so schnell weiterscrollt zu den nächsten Tweets. Ich möchte das aber nicht.

Ich arbeite daran, mir die Zustimmung abzugewöhnen. Ich arbeite daran mich zu lösen von diesem Denken des »alle bekloppt«.

Das Lachen über solche Tweets ist mir schon länger ziemlich vergangen.

***

Ich lese Juli Zehs »Unterleuten«. Reichlich spät, aber endlich doch. Sie schreibt über ein fiktives brandenburgisches Dorf, und es könnte auch ein fiktives mecklenburgisches Dorf sein. Ich erkenne vieles wieder. Die Typen, die Konflikte, die Mechanismen.

Vor allem aber bin ich angerührt. Angerührt, wie genau sie beobachtet haben muss, und mit wie viel Empathie sie sich den Figuren in diesem Dorfkosmos nähert, wie sie sie schildert, mit ihren Stärken und Schwächen. Nie verurteilend, sondern mit selten gewordenem Verständnis für Menschen, ihre Biographien und Brüche. Großartig!

12 Gedanken zu „Was los war und ist

  1. Stimmt - ich habe die Unterleutner auch gedanklich mit ahnlichem hiesigen Wirken versehen und zumindest phasenweise liefen sie mir übern Weg wie alte Bekannte.
    Ich stimme deinem Lob über die (Be)Schreibweise unbedingt zu.

    Möge die dunkle Jahreszeit zumindest einen Eispanzer dem zähnefletschenden Tier entgegenhalten der sich mit feinen Kristallen wehrt, die mit ihrem Aufblitzen zeigen, dass da weiterhin ein Funkeln besteht.

    Somit wünsche ich gute Besserung dem Körper der die Grippe überstand und alles Gute für die Heilung der Seelennarben, es tat gut, wieder von dir zu lesen.

  2. Die Großartigkeit von »Unterleuten«, ja, die habe ich mir auch schon erlesen, das empfand ich ganz genau so. —- Und dieses Ich-bin-normal (und die anderen eben nicht), das steckt ja nicht nur in »alle bekloppt«-Tweets, das taucht so oft auf, von verschiedensten Menschen in den verschiedensten Kontexten geäußert, das tut mir weh. Vor allem finde ich es schmerzhaft, wenn es aus Positionen vermeintlicher moralischer Überlegenheit, des vermeintlich Besseren heraus gezeigt wird. Je älter ich werde, umso weniger ertrage ich das. —- Vor allem aber möchte ich Dir Kraft wünschen, für Deinen Umgang mit der wilden Traurigkeit. Möge sie Dich nicht zerreißen, nicht verschlingen, all das - ich halte virtuell Deine Hand und hoffe mit Dir auf wärmere Tage, in umfassendem Sinne. Sei von Herzen gegrüßt, Frau Rebis.

  3. Traurigkeit kann manchmal ein zartes, fast süßes Wehgefühl sein, man wälze sich in warmen Decken oder renne nackend an die frische Luft…oder, es gibt sie, die Rezepte, eigens welche für eigens jede und jedermann.
    Januar und Februar, die zähen Monate gilt es zu überstehen. Und dann?
    Zumindest wärmere Lüfte umschmeicheln uns wieder…
    Ich twittere oder tweete nicht und halte von mir fern, was ich fernhalten will.
    Gruß zu dir

  4. Grippe kann nach der Genesung noch lange Depressionen machen. Deshalb sind wir letztes Jahr mehrere Wochen täglich mehrere Stunden durch die Stadt gelaufen, nachdem wir wieder auf den Beinen waren.
    Alles Gute!

    1. Ja, ich war die Woche auch immer wieder draußen. Das Problem im Moment ist, dass ich noch relativ schnell auch körperlich erschöpfe und wir obendrein Ostwind haben. D.h. es ist eiskalt. Länger als eine Stunde am Stück draußen geht kaum. Einen Rückfall möchte ich mir ja nicht einfangen und die diesjährige Grippe bzw. Infekte sind dafür prädestiniert.

  5. »Alle bekloppt« - ich kenne nicht die Kontexte, in denen dir dieses Statement begegnet ist, denke aber aus eigener Erfahrung mit diesem Gedanken: es ist oft eine verzweifelte Reaktion, auf das, was ist - und nicht immer eine Selbstüberhöhung, Arroganz oder so,
    Auch eine Müdigkeit, gegen die vielen absurden, menschenfeindlichen, ignoranten und unsolidarischen Worte und Taten anzureden / anzuschreiben, weil der Nutzen doch sehr fraglich ist.

    Deinen Überdruss in Sachen T. teile ich, mein letzter Blogpost heißt:

    Einfach mal ignorieren….
    http://www.claudia-klinger.de/digidiary/2017/02/07/einfach-mal-ignorieren/

    Es gibt so vieles, was der öffentlichen Aufmerksamkeit wert wäre, das Schicksal der Flüchtlinge ist sicher aktuell das Drastischste, aber auch die vielen Zustände im eigenen Land wäre mehr Befassung wert. Ich erlebe gerade, wie es in einem ganz normalen Berliner Krankenhaus zugeht (ein Freund ist drin, nicht ich) und bin halbwegs entsetzt, wie unser »weltweit gut da stehendes Gesundheitssystem« aus der Nähe aussieht: KRASS, stellenweise richtig GEFÄHRLICH für die, die es in Anspruch nehmen.
    Hab dann mal Krankenhausbewertungen gelesen und sehe, dass das kein Einzelfall ist - aber wen interessierts?

    Ich wünsch dir, dass der Frühling bald kommt und die Traurigkeit vertreibt! Vielleicht solltest du zum ende des Winters mal Kurzurlaub im Süden machen - Sizilien z.B., Sonne satt und viel wärmer…

  6. Diese große bedrohliche Traurigkeit kenne ich auch so ähnlich, obwohl sie statt fletschender Zähne bei mir eher einen gepanzerten schweren Körper hat, mit dem sie mich platt walzen will. Diesen Winter geht es leidlich. Aber es ist so anstrengend…
    Ich wünsche dir, dass du den längeren Atem behältst!
    Und auch sonst: ja, genau!

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