Privates ·Tagesnotizen 2015

Tagesnotizen

Auf dem Weg vom Einkaufen im nahegelegene Städtchen zurück nach Hause lief das Autoradio. Wunderschöne sog. »Alte Musik« wurde gespielt, und ich hörte begeistert zu. Meine Gedanken wanderten, und plötzlich dachte ich, es gibt viele überlieferte »letzte Worte« von mehr oder weniger berühmten Menschen. Aber welche Musik hört ein Mensch wirklich als allerletztes? Darüber gibt es (natürlich) keine Aufzeichnungen. Die meisten können sich vermutlich an das erste Musikstück erinnern, dass sie wirklich bewusst gehört und genossen haben. »Mit dem und dem Stück oder Song fing meine Liebe zur Musik an.« Ein Verzeichnis über die zuletzt von Menschen gehörte Musik, wäre schwierig zu bewerkstelligen.

In den meisten Fällen, ahnen Menschen ja nicht, wann ihr Leben enden wird und dass das Musikstück, das sie gerade hören, das letzte sein wird, das sie im Leben hören.

Jemand geht in eine Oper, erleidet in der Nacht einen Herzinfarkt. Und das letztes Stück der Oper ist auch das letzte Stück Musik, das er oder sie im Leben gehört hat.

Jemand fährt nach dem Einkaufen nach Hause und hört Musik im Radio. Plötzlich passiert ein Unfall, das Auto überschlägt sich, wickelt sich um einen Baum oder landet in einem Graben oder Feld. Der Mensch, der das Auto gefahren hat, ist augenblicklich tot oder stirbt noch am Unfallort. Sofort sind Zeugen des Unfalls zur Stelle, um zu helfen. Im Radio läuft noch die letzten Takte von Hit XY.

Jemand beschließt aus dem Leben zu gehen und schluckt Tabletten. Als letztes lässt er noch einmal seine Lieblingsplatte mit der Musik von Jazzlegende XY laufen und während er oder sie der Musik lauscht, schläft er oder sie für immer ein.

Jemand ist in seiner Wohnung ermordet worden. Die Nachbarn wundern sich, weil überlaute Rockmusik aus der Wohnung schallt und auf das Klingeln niemand reagiert. Als die Polizei kommt, spielt die Musik aus der Stereoanlage immer noch.

Ein junger Mensch liegt im Hospiz und es zeichnet sich ab, dass er oder sie in den nächsten Stunden sterben wird. Mit letzter Kraft bittet der oder die Sterbende darum, dass er oder sie seine Kopfhörer in die Ohren bekommt und seine Lieblings-Playlist noch einmal hören kann. Irgendwann während die Playlist noch läuft, stirbt er oder sie. Keiner weiß, welcher Song von der Playlist im entscheidenden Moment des Todes lief.

Eine alte, schon lange verwitwete Frau, liegt im Sterben. Ihre Kinder und deren Kinder sind alle da um Abschied zu nehmen. Da bittet sie die Sterbende ihr noch einmal Choral XY zu singen und natürlich erfüllen ihr ihre Kinder und Enkelkinder diesen Wunsch. Noch während sie singen, verstirbt die alte Frau.

Was wäre, wenn wir die Chance hätten, tatsächlich selbst entscheiden zu können, welches Musikstück wir als allerletztes in unserem Leben hören? Wären das dieselben gerade populären Stücke, die bei Beerdigungen oder Trauerfeiern gespielt werden, weil sich die Verstorbenen das Abspielen dieser Lieder gewünscht haben, oder weil die Angehörigen glauben, dieses oder jenes Musikstück fasst das Leben der Verstorbenen am besten zusammen? À la »I did it my way« gesungen von Frank Sinatra oder »Niemals geht man so ganz« von Trude Herr, usw. Oder wären es ganz andere Musikstücke?

Im Wissen darum, dass es wirklich das allerletzte Musikstück ist, dass ich in diesem Leben höre, welches würde ich hören wollen? Wenn ich die Wahl hätte, ich glaube, es wäre ein klassisches Stück, wahrscheinlich Barockmusik (Bach, Scarlatti, Orlando di Lasso, Giovanni Pierluigi da Palestrina, etc.) oder aus dem Bereich der Alten Musik (wobei sich die beiden Bereiche teilweise ja überschneiden), unter dessen Klängen ich gerne die Augen für immer schließen würde. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Vielleicht doch eher Musik aus dem englischen Raum? Ich liebe die englische Chormusik, oder vielleicht William Byrd, John Dowland, Edward Elgar? Schon nach kurzem Nachdenken, merke ich, dass es mir doch schwerer fallen würde, mich tatsächlich auf ein spezielles Stück festzulegen. Die Musikrichtung ist einfacher zu entscheiden. Aber dann?

Vielleicht doch ganz gut, dass wir nicht selber entscheiden müssen, welches das letzte Musikstück unseres Lebens sein soll. Und doch finde ich den Gedanken eines Verzeichnisses, in dem nur die Musikstücke und Songs stehen, die ein Mensch als allerletztes in seinem Leben gehört hat, irgendwie sehr sehr faszinierend.

Genauso faszinierend wäre vermutlich ein Verzeichnis, das nur die Musikstücke und Songs enthält, die ein Mensch als allererstes in seinem Leben gehört hat (also wenn er noch ungeboren aber schon fähig zu hören war). Auch dieses Verzeichnis gibt es nicht und wird es auch nie geben. Wir kennen ja nicht den Moment, in dem ein ungeborenes Kind zum ersten Mal in der Lage ist, Musik zu hören.

Wenn es möglich wäre, so ein Verzeichnis zu bilden, dann gäbe es sicher selten aber doch ab und an sogar den Fall, dass ein Mensch am Anfang seiner »Musikgeschichte« dasselbe Stück gehört hat, wie ganz am Ende. So ähnlich, wie wenn bei einem Menschen Geburts- und Todestag auf dasselbe Datum fallen.

*

Was übrig blieb vom Tag:

  • die Freude über einen sonnigen Tagesbeginn und sonnigen Tag
  • die Freude über einen super gelungenen Hefeteig
  • die Freude über den Geruch von frisch zermahlenem Kardamom
  • die Freude über den Duft von fast 50 frisch gebackenen Schwedischen Kanelbullar
  • die Freude der WG-Genossen über ihren Anteil an den Kanelbullar
  • die Freude über die Freude und Überraschung der halben Nachbarschaft, als ich die frischen noch warmen Kanelbullar als »nachbarschaftlichen Gruß« vorbeibrachte
  • die Freude darüber, dass es jetzt abends schon deutlich länger hell bleibt, als noch vor kurzem
  • die Freude darüber, dass es ein Tag mit so viel Freude war

10 Gedanken zu „Tagesnotizen

  1. Wie gerne ich alles gelesen habe- die Düfte beinahe in der Nase hatte!
    Mit Freunden ein Gespräch geführt über das Leben im Alter und auf den Tod hin. Dass man alleine stirbt. Zwei von uns hatten schon früher jeweils eine Nahtoderfahrung, die viel Angst nehmen kann. Kann. Weil man ja letztlich nie weiß, wie es sein wird.
    Schon öfter gelesen, dass nach einem tödlichen Unfall die Musik im Autoradio noch läuft und läuft…
    Am Ende Deines Blogeintrags diese freudvollen Dinge: schön!
    Gruß von Sonja

  2. @ Sonja - letztlich ist es gut, dass wir nicht wissen, wie es sein wird.

    Zum Punkt »allein sterben«, was ja viele sehr fürchten, finde ich es interessant, dass viele Menschen tatsächlich »allein sterben«, d.h. obwohl Angehörige da sind und fast nicht vom Sterbebett weichen (wollen), »passen« diese Sterbenden einen Moment ab, in dem sie doch »allein« sind. Die meisten Angehörigen, wenn sie noch unerfahren sind mit dem Tod, machen sich dann große Vorwürfe, weil sie nicht da gewesen sind, als Vater/Mutter/werauchimmer gestorben ist.
    Ich finde es bemerkenswert, dass viele Sterbende offenbar allein sein wollen, wenn sie ihren letzten Atemzug tun. Insofern ist »allein sterben« vielleicht gar nicht so schlecht. Vielleicht hat es etwas mit der Intimität eines solchen Augenblicks (des Todes) zu tun.

  3. Ich denke man stirbt in jedem Fall allein. Wer auch immer anwesend ist, kann ja das »Erlebnis des Sterbens« nicht teilen. Aber »allein« ist ja keineswegs immer was Schlechtes.

    Eine schöne Idee dieses »was übrig bleib vom Tag « !

  4. Was übrig bleibt vom Tag, notiere ich seit Jahren - für mich - in einem extra dafür reservierten Kalender, in den ich dann auch Eintrittskarten etc. lege oder was mir sonst noch Schönes in die Hände gefallen ist. Am Ende sehe ich dann. wie erfüllt das Jahr gewesen ist, mein Jahreslesebuch.
    Schön, dass du den Leser daran beteiligst!

  5. @Myriade - Ja, auch in dieser Hinsicht, stirbt man letztlich »allein«. Danke für die Ergänzung.

  6. @ mona lisa - Ich tue das auch schon seit Jahren. Einiges davon wandert jetzt auch ins Blog, aber längst nicht alles.

    Und ich mach das auch ganz gerne, mal blättern in den Notizen und sich wieder in Erinnerung rufen, was alles gewesen ist, gerade auch die Kleinigkeiten und Banalitäten, die kleinen und die großen Freuden, die Traurigkeiten und die Täler.

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